Bild: Li Biletska, How does it feel, 2022

Einsamkeit = sozialer Stress?

In unserem Gesprächsformat Lasst uns reden haben wir dieses Mal mit Prof. Dr. med. Mazda Adli, Psychiater und Stressforscher, gesprochen — und zwar über Einsamkeit. Diese ist mehr als ein Gefühl: Sie wirkt wie sozialer Stress und kann unsere körperliche und seelische Gesundheit massiv beeinflussen. Besonders betroffen sind jedoch nicht nur Menschen in klassischen Risikosituationen, sondern auch armutsbetroffene Menschen — denn Armut begünstigt Einsamkeit, soziale Isolation und erschwerte Teilhabe. Im Gespräch erklärt Mazda Adli, wie Einsamkeit entsteht, was sie mit uns macht — und was wir tun können, damit sie uns nicht gesundheitlich belastet.

Lasst uns reden!

03.07.2025

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Lasst uns reden... mit Prof. Dr. med. Mazda Adli

Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit. Doch wie entsteht sie, wen betrifft sie und warum fällt es uns so schwer, darüber zu sprechen? Das haben wir Prof. Dr. med. Mazda Adli gefragt. Er ist Stressforscher, Psychiater – und er forscht zum Thema psychische Gesundheit in der Großstadt. Er sagt: Einsamkeit ist eine Form von sozialem Stress. 

»Einsamkeit ist eine Form von sozialem Stress.«

Stellen Sie sich doch gern einmal vor!

Ich bin Mazda Adli. Ich bin Psychiater, Psychotherapeut und Stressforscher. In meiner Forschung befasse ich mich mit dem Thema Stress – insbesondere mit dem Einfluss des Stadtlebens auf die psychische Gesundheit. 

Wie sind Sie speziell zum Thema Einsamkeit gekommen?

Ich befasse mich mit dem Einfluss des Stadtlebens auf unsere psychische Gesundheit. Und Einsamkeit ist ein Thema, das in Städten sehr häufig vorkommt – wenn auch nicht ausschließlich. Wir haben es in großen Städten mit Anonymität zu tun. Nicht jeder kann mit der Anonymität der Stadt gut umgehen. Gleichzeitig ist diese Anonymität auch etwas, das viele attraktiv finden – viele ziehen in die Stadt, um vielleicht der sozialen Kontrolle einer ländlich geprägten Umgebung zu entkommen. Aber die Kehrseite der Medaille kann sein, dass man in der Stadt, mitten unter Menschen, Einsamkeit erlebt.

»Einsamkeit und Alleinsein sind keinesfalls das Gleiche.«

Sie beschreiben, dass es unterschiedliche Dimensionen von Alleinsein und Einsamkeit gibt ..

Einsamkeit und Alleinsein sind keinesfalls das Gleiche. Einsamkeit ist eine Form von Stress – von sozialem Stress. Genauer gesagt ist sozialer Stress die Stressform, die aus dem Zusammenleben oder dem Zusammenwirken von Menschen entsteht – oder auch aus dem völligen Fehlen davon. Alleinsein dagegen ist etwas, das viele Menschen als großen Luxus empfinden. Man sucht das Alleinsein manchmal ganz bewusst, um sich etwa der Betriebsamkeit des Alltags für eine Weile zu entziehen. 

Einsamkeit definieren Sie als gesellschaftliches Problem. Wie meinen Sie das?

Seit einiger Zeit – seit etwa zehn Jahren – beobachten wir eine zunehmende Aufmerksamkeit für das Thema Einsamkeit. Zum Glück. Einsamkeit scheint dabei auch etwas zu sein, das über die letzten Jahre zugenommen hat. Das lässt sich zunehmend feststellen – und hat sehr viel mit der Pandemie zu tun. Wir sehen gleichzeitig, dass Einsamkeit eine Reihe von Folgen für die psychische, aber auch für die körperliche Gesundheit haben kann. Einsamkeit – so viel kann man sagen – kann sogar das Leben verkürzen.: Wer einsam ist, hat ein erhöhtes Risiko für bestimmte, stressbedingte Folgeerkrankungen. In meinem Fachbereich, der Psychiatrie, ist die Depression wahrscheinlich die bekannteste dieser Folgeerkrankungen. Aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Stoffwechselstörungen können die Folge sein.

»Es gibt so etwas wie eine einsamkeitsbedingte Sterblichkeit.«

Und können Sie vielleicht auch etwas zu dem Zusammenhang von Einsamkeit und Armut sagen?

Einsamkeit ist ein Thema, das wir vor allem in großen Städten finden – dort, wo es anonym zugeht, wo soziale Beziehungen zwar häufig, aber vielleicht flüchtiger sind. Während der Pandemie haben wir gesehen, dass es vor allem die Alleinlebenden in unseren Städten waren, die unter Einsamkeit litten. Das kann ich auch aus meinem ärztlichen Alltag bestätigen. Die sogenannten Großstadt-Singles – wir wissen, dass in großen Städten etwa ein Drittel der Menschen alleine lebt. Und entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass es sich bei den Großstadt-Singles um erfolgreiche, urbane Karrieristen handelt, sieht die Lebensrealität vieler Alleinlebender in der Großstadt ganz anders aus: Sie sind überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen, überdurchschnittlich häufig auf Transferleistungen angewiesen. Und wir wissen wiederum, dass Armut einer der unabhängigen Risikofaktoren für Einsamkeit ist.

»Armut begünstigt Einsamkeit. Und Einsamkeit begünstigt vermutlich auch Armut.«

Wer unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen lebt, hat erschwerten Zugang zu den vielen Vorteilen der Stadt – erlebt Hürden bei der Teilhabe am städtischen, kulturellen und sozialen Leben. Insofern muss man sagen: Armut begünstigt Einsamkeit. Und Einsamkeit begünstigt vermutlich auch Armut. 

Welche Menschen sind besonders gefährdet? 

Interessanterweise zeigen Einsamkeitsstudien durchgängig eines: Es sind vor allem junge Menschen, die – entgegen dem verbreiteten Klischee – besonders betroffen sind. In der deutschen Bevölkerung sehen wir einen ersten großen Peak im jungen Erwachsenenalter. Danach nehmen die Zahlen zunächst ab, steigen aber im hohen Alter – jenseits der 75 oder 80 Jahre – wieder deutlich an.

»Es sind vor allem junge Menschen, die betroffen sind.«

Können Sie erklären, wie es sein kann, dass junge Menschen, die doch eigentlich ständig in sozialen Kontexten leben, trotzdem einsam sind? 

Das Einsamkeitsrisiko beginnt oft im jungen Erwachsenenalter – einer Lebensphase, in der sich sehr viel verändert: Man zieht vielleicht in eine andere Stadt zum Studium, zum Arbeiten, verlässt das Elternhaus, den bisherigen Freundeskreis – und steht plötzlich vor der Herausforderung.  Gleichzeitig verfügt man häufig noch nicht über die gesamte Palette an Resilienzstrategien, die man im Laufe des Lebens entwickelt. All das trägt dazu bei, dass gerade junge Menschen in dieser Phase anfälliger für Einsamkeit sind. Und dabei ist Einsamkeit von außen oft nicht sichtbar.

»Einsamkeit ist nicht traurig – wenn sie beachtet wird.«

Was können wir tun, damit sich Einsamkeit und damit auch Armut nicht weiter verbreiten?

Das Wichtigste ist: darüber zu sprechen. Einsamkeit ist stark tabuisiert, und genau das erschwert viele Bemühungen, etwas dagegen zu unternehmen. Es gibt einige gesellschaftliche Probleme, bei denen wir Menschen eine Art instinktive Weglauftendenz haben – weil sie unangenehm sind, Angst machen oder andere negative Gefühle auslösen. Dazu gehören Themen wie Hunger, Armut, Infektionskrankheiten – und eben auch Einsamkeit. Aber erst, wenn wir hinsehen und hinschauen, können wir diese Probleme angehen – und auch lösen. Es gibt ein schönes Sprichwort der Tuareg, eines nordafrikanischen Nomadenvolkes: „Einsamkeit ist nicht traurig – wenn sie beachtet wird.“

Was können wir als Individuen konkret tun? 

Als einzelne Menschen können wir Awareness für das Thema entwickeln. Wir können in unserer Umgebung aufmerksam sein: Gibt es jemanden in der Nachbarschaft, in der Familie, im Freundeskreis, der einsam ist? Wenn uns das auffällt, können wir auf diese Person zugehen. Gegen die eigene Einsamkeit hilft oft ein einfacher Schritt: vor die eigene Haustür zu treten. Sich bewusst machen: Wer wohnt eigentlich um mich herum? Kenne ich die Namen der Menschen in meinem Haus? Weiß ich, welche Namen auf den Klingelschildern stehen? Zugehörigkeit ist eines der wichtigsten Gegenmittel gegen Einsamkeit.

Und was gibt es an Netzwerken oder Initiativen?

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Projekten, die sich mit dem Thema Einsamkeit befassen. Auch politisch tut sich etwas: In Berlin-Reinickendorf haben wir die erste Einsamkeitsbeauftragte Deutschlands. Es gibt auch großartige zivilgesellschaftliche Initiativen, zum Beispiel Silbernetz, das sich vor allem an ältere, vereinsamte Menschen richtet.

Wie finden Sie die Idee der »Plauderbänke«?

Ich finde die Idee der Plauderbänke ganz entzückend – weil sie so einfach und naheliegend ist. Es geht darum, Orte zu schaffen, an denen Menschen sich begegnen, kennenlernen, miteinander ins Gespräch kommen können. Und das muss nicht unbedingt eine Bank sein – es braucht allgemein öffentlichen Raum. Nicht-kommerziell genutzten Raum, der Menschen dazu einlädt, zu verweilen, Zeit zu verbringen – und vielleicht auf Gleichgesinnte zu treffen.

Hilfs- und Beratungsangebote

Entsprechend der Vielfalt an Ursachen für Einsamkeit und den Bedarfen der Betroffenen entwickelt die Plattform Kompetenznetz Einsamkeit fortlaufend eine Liste mit Kontakt- und Hilfeangeboten, um Menschen, die sich einsam fühlen, erste Anlaufstellen anzubieten.

Eine Auswahl von Projekten und Anlaufstellen findest du hier.

Hinweis: Das oben gezeigte Titelbild und der begleitende Text sind unabhängig voneinander entstanden. Das Bild wurde nicht zur Illustration des Artikels geschaffen, sondern als eigenständiges Kunstwerk. Gerade in dieser Offenheit liegt die Stärke von Kunst: Sie kann neue Blickwinkel eröffnen und eigene Bedeutungen entfalten.